Leben mit der tschechoslowakischen Modernisierungsmission in der Podkarpatská Rus/Karpato-Ukraine, 1919–1939 (Arbeitstitel)
Dissertation von Berenika Zeller
Als Transkarpatien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) zugeschlagen wurde, startete die Prager Regierung ein umfassendes «Modernisierungsprogramm», um die bis dahin kaum bekannte Region in den gemeinsamen Staat zu integrieren. Tausende Neusiedler:innen, darunter zahlreiche Beamt:innen, Geograf:innen, Polizisten und Lehrer:innen wurden in den nachfolgenden zwei Dekaden aus verschiedenen Gebieten Böhmens, Schlesiens und Mährens in das Karpatengebiet einberufen. Auch Sozial- und Gesundheitsorganisationen, wie etwa das Tschechoslowakische Rote Kreuz und tschechoslowakische Frauenvereine, entsandten Gesundheitspersonal und Sozialarbeiter:innen, die erheblichen Einfluss auf das unmittelbare Alltagsleben der Bevölkerung in der Karpatenregion nahmen. Die tschechoslowakischen Akteur:innen, meist vom Machtzentrum in Prag eingesetzt, beteiligten sich am infrastrukturellen und administrativen Ausbau der Region am Fusse der Karpaten, die fortan «Podkarpatská Rus» genannt wurde. Das Modernisierungsprogramm bedeutete für die bis dahin zu Ungarn gehörende Bevölkerung einen Einschnitt in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Machtverhältnisse und Loyalitätsfragen wurden neu ausgehandelt, ein Prozess, der alles andere als harmonisch verlief. Zwischen 1919 und 1938 hielt die tschechoslowakische Moderne Einzug und veränderte die Lebensrealitäten der lokalen Bevölkerung, bis in den Jahren 1938/39 die letzten tschechoslowakischen Akteur:innen durch die Ankunft ungarischer Truppen gezwungen waren, die Karpato-Ukraine zu verlassen, die für viele inzwischen zur neuen Heimat geworden war.
Dieses Teilprojekt untersucht die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Grenzverschiebungen auf die lokalen Lebenswelten. Ebenso wird die Kehrseite der sozialen und wirtschaftlichen Integration in den tschechoslowakischen Staat analysiert. Dabei wird auch die Sicht der tschechoslowakischen Akteure auf das Leben vor Ort behandelt, sowie die Wahrnehmung der Prager Modernisierungsmission durch die lokale Bevölkerung.
Im Konkreten geht es dabei um die Erforschung der Lebenswelten von tschechoslowakischen Lehrkräften, insbesondere von Lehrerinnen, sowie von Krankenschwestern, Rotkreuzschwestern und Sozialarbeiter:innen und weitere «tschechoslowakische Berufsgruppen» in der Region.
Der Schwerpunkt der Studie liegt auf dem Einfluss dieser Expert:innen, von Gesundheitsorganisationen – wie dem Tschechoslowakischen Roten Kreuz – und tschechoslowakischen Frauenverbänden auf das Leben der lokalen Bevölkerung, auf das Leben von Kindern ruthenischer, ukrainischer, ungarischer und Roma-Herkunft, nur um einige zu nennen. Ebenso werden Beispiele für die Auseinandersetzung mit Loyalitätsfragen (beispielsweise bei Lehrpersonen und Beamt:innen) untersucht. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Grenzverschiebungen auf das regionale Kleinhandelswesen und die lokale Mobilität untersucht. Schliesslich werden Fragen der individuellen Zugehörigkeit und biographische Besonderheiten von ausgewählten Akteur:innen erforscht, die in das übergeordnete Forschungsprojekt der «Border Biographies» einfliessen sollen.