Epizentrum des territorialen Revisionismus

Die Karpato-Ukraine unter multiplem Grenz- und Staatenwechsel, 1914-1946

Das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Projekt untersucht die Geschichte der Karpato-Ukraine und ihrer polyethnischen Bevölkerung, deren Leben von multiplen Grenz- und Staatenwechseln gekennzeichnet war.

Laufzeit: September 2023-August 2027

Kontakt: carpathians.hist@unibe.ch

© Paměť národa
© Paměť národa

Das östliche Europa und seine Geschichte waren und sind bis heute durch Grenzkonflikte und kriegerische Auseinandersetzungen um die territoriale Zugehörigkeit von Regionen oder Minderheiten gekennzeichnet. Mit rund 17 Okkupationen und insgesamt sechs Regimewechseln war der westlichste Teil der heutigen Ukraine – die Karpato-Ukraine resp. Transkarpatien – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das europäische Epizentrum des territorialen Revisionismus. In keiner anderen Region Europas kam es zwischen 1914 und 1946 so häufig zu Grenzverschiebungen wie in dieser polyethnischen Bergregion.

Das Forschungsprojekt stellt erstmals die verwobene Geschichte der Karpato-Ukraine in den Mittelpunkt und untersucht den Lebensalltag jener Gruppen und Individuen, deren Biographien massgeblich von den multiplen Grenzziehungen, neuen Machthabern und ihren nation building-Projekten gekennzeichnet waren. Im Zentrum steht dabei die Frage, was die vielfachen Grenzveränderungen für die Menschen vor Ort bedeuteten, die zum Teil bis zu sechs Mal ihre Staatszugehörigkeit wechselten – und dies ohne ihren Heimatort verlassen zu haben. Welche Strategien wandte die lokale Bevölkerung an, um mit dem häufigen und oftmals drastischen Wandel in den Jahren von 1914 bis 1946 zurechtzukommen? Wie tangierten die Machtwechsel und Grenzverschiebungen den Alltag, den Zusammenhalt und Fragen der Zugehörigkeit?

Die Ergebnisse des Projektes, das sich auf umfangreichen Archivquellen stützt, liefern neue Erkenntnisse über das interethnische Zusammenleben, über Zugehörigkeit sowie über Desintegration und Gewalt in diesem Grenzgebiet zwischen Ost- und Westeuropa. Sie tragen damit zu einem besseren Verständnis der Mikrodynamiken historischer, aber auch aktueller Gebietskonflikte im östlichen Europa bei. Mit dem für dieses Forschungsprojekt entwickelte lebensweltliche Konzept der Border Biographies leisten sie einen wichtigen Beitrag zu den Border/Borderland Studies.

Jewish Border Biographies ‒ Jüdische Lebenswelten in den Karpaten unter multiplen Grenz- und Staatenwechseln, 1914-1944

Teilprojekt der Projektleitung: Prof. Dr. Julia Richers

Die jüdische Bevölkerung, die sowohl innerhalb des Königreichs Ungarn, als auch in der späteren Tschechoslowakischen Republik im Landesschnitt nie fünf Prozent überschritt, machte in einigen Ortschaften der östlichen Karpaten wie etwa der Stadt Munkács/Mukačevo über 40 Prozent aus; in manchen Gemeinden stellte sie sogar die Bevölkerungsmehrheit. Jüdinnen und Juden waren in den Karpaten somit keine marginale Minderheit, sondern umfassten einen substanziellen Teil von Dorfgemeinschaften und regionalen Zentren. Neben dieser für die damalige Zeit in weiten Teilen Europas aussergewöhnlichen Konstellation war eine weitere Besonderheit, dass das mehrheitlich orthodoxe und chassidische Landjudentum durch Ackerbau, Vieh- und Holzwirtschaft unter prekären Lebensverhältnissen eng mit der lokalen ruthenischen/huzulischen Bevölkerung weitgehend friedlich zusammenlebte. Sowohl die friedfertigen wie auch konflikthaften Phasen des Zusammenlebens sind bis dato in der Forschung kaum näher untersucht worden, ebenso wenig das gesellschaftliche Zusammenleben mit anderen Gruppen dieses polyethnischen Grenzraumes, in dem sich Handelsrouten zwischen Ost und West kreuzten. Bekannt ist vor allem die grosse Armut in den Karpaten. Hier will das Teilprojekt die umfangreichen Aktenbestände der unterschiedlichen (trans)nationalen Hilfsorganisationen sowie deren Fotobestände genauer auf die Alltagsrealitäten hin untersuchen.  

Konflikthafte Spannungen schienen bis zum Zweiten Weltkrieg häufig vor allem im Rahmen innerjüdischer Auseinandersetzungen zwischen zionistischen Gruppierungen, Reformjudentum und der chassidischen Gemeinschaft um den Rabbinerhof von Chaim Elazar Spira stattgefunden zu haben. Hierin zeigt sich eine der vielen, spezifisch räumlichen Dimensionen jüdischer Lebenswelten in den Karpaten: Jede dieser Gruppierungen richtete ihren Kompass nach ganz unterschiedlichen Koordinaten aus, entweder nach den grossen religiösen Zentren Galiziens, nach L’viv, nach Szatmár/Satu Mare, nach Sighet, nach Prag oder Budapest.

Die mehrfachen Besetzungen, Grenz- und Staatswechsel sowie häufig ändernden Gesetzgebungen stellten für die lokale jüdische Gemeinschaft eine besondere Herausforderung dar. Gerade der jüdischen Bevölkerung unterstellte man chronisch bei jedem Staatswechsel konstant fehlende oder mangelnde Integration und Loyalität den neuen Machthabern und ihren nation building-Projekten gegenüber. Der Vorwurf der Illoyalität, aber auch der Spionage, zieht sich wie ein roter Faden durch diese Zeit der Umbrüche. Ein Augenmerk liegt deshalb auch auf jenen Umbruchsmomenten, in denen eruptiv (oder latent immer schon vorhandene) antijüdische Gewalt zum Vorschein trat. Dazu gehören Aufrufe zu Vertreibung und Plünderungen in der Umbruchszeit 1918-1920 sowie Schilderungen der gewalthaften Grenzverschiebungen 1938/39 sowie die als «fremdenpolizeiliche» Massnahmen bezeichnete Deportationen im August 1941 nach Kamenez-Podolsk.

Wie reagierten Jüdinnen und Juden auf die mehrfachen Macht- und Staatenwechsel? Spiegelte sich die oft von aussen herangetragene Ablehnung in den Mikrodynamiken des gesellschaftlichen Zusammenlebens vor Ort oder nicht? Anstelle einer makrogeschichtlichen Aussenperspektive beabsichtigt dieses Teilprojekt durch einen Blick auf die regionale Ebene, auf Lebenswelten, Biographien sowie ihre wichtigsten Bezugs- und Referenzkategorien einen Forschungsbeitrag zur stark untererforschten jüdischen Geschichte der Karpaten leisten. Ein weiteres Ziel dieses Teilprojekts besteht in der akteurszentrierten Herausarbeitung von Border Biographies, ein Arbeitsbegriff und Forschungsansatz, der eigens für dieses Projekt erarbeitet wurde und mit dem die Erforschung individueller Grenzerfahrungen über den nationalstaatlichen Containerraum hinweg analytisch umschrieben werden soll. Im Sinne einer erkenntnisleitenden Arbeitshypothese sollen unter der Bezeichnung Border Biographies Lebensgeschichten in den Blick geraten, die durch die multiplen Grenzverschiebungen und ständig wechselnden Herrschaftssysteme stark geprägt wurden. Dabei werden Fragen der (Mehrfach-)Identifikationen, der Wahrnehmung von Zugehörigkeit sowie der Mechanismen von Inklusion und Exklusion behandelt und eine methodisch-theoretische Erweiterung der Grenzraumforschung (Borderland Studies) angestrebt.

Italiens Grossmachtbestrebungen in Ostmitteleuropa: Eine neue Geschichte diplomatischer Netzwerke von der Zwischenkriegszeit bis zum Zweiten Wiener Schiedsspruch (1920-1940)

Mehrheit in permanenter Minderheitenposition: Die rusynische Bevölkerung in der Karpato-Ukraine zwischen konkurrierenden (trans-) nationalen Identitätsentwürfen, 1918–1940

Dissertation von Michèle Häfliger

Die eigentliche Bevölkerungsmehrheit der Karpato-Ukraine waren Menschen aus einfachen Verhältnissen, die meist die griechisch-katholische Dorfkirche besuchten, die sich in einer Sprache verständigten, die dem Ukrainischen wie auch dem Slowakischen nahestand und die allgemein oft als «ostslawisch» bezeichnet wurden. Dennoch war diese scheinbare Gruppe – oft Rusyny oder auch Ruthenen genannt – heterogener als angenommen und beinhaltete viele lokale Identitäten, etwa «die Huzulen» in den südöstlichen Bergtälern.

In dieser Vielfalt findet sich die grösste Herausforderung für das Dissertationsprojekt: Wie sollen die zahlreichen (Selbst-)Identifikationen und Fremdzuschreibungen erforscht werden? Ein Anspruch besteht darin, diese Fragen quellen- und vor allem personennah zu beurteilen sowie zu zeigen, dass die oftmals armen Menschen nicht die Musse hatten, sich mit Fragen der Identität oder Gruppenzugehörigkeit (vgl. Brubaker 2004) auseinanderzusetzen. So soll den Fremdbezeichnungen verschiedener externer Akteure, aber gerade auch den Selbstidentifikationen dieser Menschen, auf den Grund gegangen werden.

Die zentrale Forschungsthese geht davon aus, dass die einfachen Menschen bzw. die Nicht-Elite sich vornehmlich über ihr Dorf, ihr Tal, ihren sozialen Status oder ihr Geschlecht identifizierten; Kategorien wie Ethnie oder Nation spielten für sie eine untergeordnete oder gar keine Rolle. In diesem Sinne soll Tara Zahras (2010) Konzept der national indifference Verwendung finden. Da spätestens im Verlaufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mindestens Ungarn, die Tschechoslowakei und galizische Akteure Anspruch auf die Mehrheitsbevölkerung der Region stellten, gelangten diese Fremdeinflüsse in die Köpfe der Menschen und beeinflussten deren Selbstwahrnehmung.

Es sollen nicht zuletzt die Lebenswelten der Menschen untersucht werden und wie sich diese im Zuge der mehrfachen Staatswechsel an die neuen Realitäten anpassen mussten. Zwar stellten «die Rusyny» die absolute Bevölkerungsmehrheit in der Region, wurden dabei jedoch allzu oft als Minderheit behandelt und erhielten nicht das gebührende Mitspracherecht. Dies änderte sich spätestens mit der Ausrufung der «Karpato-Ukraine» im März 1939, die zwar nur 27 Stunden bestand, jedoch das erste (und einzige?) Mal war, dass die lokalen Menschen selbst über ihr Schicksal bestimmten.

Die Karpato-Ukraine als Spielball der Grossmächte? Die internationalen Grenzziehungsprozesse und ihre Akteure, ca. 1914–1939.

Dissertation von Philippe Thomet

Als multiethnisch geprägte Region war die Karpato-Ukraine besonders von den geopolitischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit betroffen. An den Pariser Friedensverhandlungen wurde die Karpato-Ukraine der Ersten Tschechoslowakischen Republik zugesprochen. Doch noch während der Verhandlungen versuchte die Ungarische Räterepublik unter Béla Kun, Fakten zu schaffen und das Gebiet militärisch zu besetzen, was jedoch misslang. Als Reaktion auf den ungarischen Einmarsch wurde in der Karpato-Ukraine eine Militärverwaltung errichtet, die bis am 9. Januar 1922 fortbestand und unter französischem Oberbefehl stand. Trotzdem blieb die Karpato-Ukraine Gegenstand revisionistischer Absichten. Dies gilt besonders für die späten 1930er-Jahre als Ungarn im Schlepptau der nationalsozialistischen Expansionspolitik seine territorialen Ansprüche wieder anmeldete und diese auch durchzusetzen vermochte: Mit dem Ersten Wiener Schiedsspruch 1938 kam die Karpato-Ukraine teilweise und nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei im Frühjahr 1939 schliesslich vollständig zu Ungarn.

Die Karpato-Ukraine blieb also während der gesamten Zwischenkriegszeit Gegenstand internationaler Verhandlungen und Grenzziehungsprozesse. Ziel dieses Dissertationsprojektes ist es, diese bisher untererforschten Prozesse und ihre Akteure genauer zu beleuchten: Wer waren die „Grenzzieher“ von Paris und was waren ihre Beweggründe? Auf welchen Grundlagen legten sie die zwischen- und innerstaatlichen Grenzen der Karpato-Ukraine fest? Welche Kriterien bestanden gegenüber der lokalen Bevölkerung? Welche Rolle nahm Frankreich ein, sowohl an den Friedensverhandlungen als auch vor Ort, wo die französische Militärmission die Befehlsgewalt über die tschechoslowakische Armee und die lokale Militärverwaltung ausübte? Mit Bezug auf die 1930er-Jahre stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern die Konflikte der unmittelbaren Nachkriegsordnung wieder aufgegriffen und von einzelnen Akteuren bewusst angeheizt wurden? Welche Anknüpfungspunkte und Kontinuitätslinien bestanden zwischen dem System der Pariser Vorortsverträge und den Wiener Schiedssprüchen? Solche Fragen stehen im Zentrum des Dissertationsprojekts.

Leben mit der tschechoslowakischen Modernisierungsmission in der Podkarpatská Rus/Karpato-Ukraine, 1919–1939 (Arbeitstitel)

Dissertation von Berenika Zeller

Als Transkarpatien nach dem Ende des Ersten Weltkrieges der Ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) zugeschlagen wurde, startete die Prager Regierung ein umfassendes «Modernisierungsprogramm», um die bis dahin kaum bekannte Region in den gemeinsamen Staat zu integrieren. Tausende Neusiedler:innen, darunter zahlreiche Beamt:innen, Geograf:innen, Polizisten und Lehrer:innen wurden in den nachfolgenden zwei Dekaden aus verschiedenen Gebieten Böhmens, Schlesiens und Mährens in das Karpatengebiet einberufen. Auch Sozial- und Gesundheitsorganisationen, wie etwa das Tschechoslowakische Rote Kreuz und tschechoslowakische Frauenvereine, entsandten Gesundheitspersonal und Sozialarbeiter:innen, die erheblichen Einfluss auf das unmittelbare Alltagsleben der Bevölkerung in der Karpatenregion nahmen. Die tschechoslowakischen Akteur:innen, meist vom Machtzentrum in Prag eingesetzt, beteiligten sich am infrastrukturellen und administrativen Ausbau der Region am Fusse der Karpaten, die fortan «Podkarpatská Rus» genannt wurde. Das Modernisierungsprogramm bedeutete für die bis dahin zu Ungarn gehörende Bevölkerung einen Einschnitt in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Machtverhältnisse und Loyalitätsfragen wurden neu ausgehandelt, ein Prozess, der alles andere als harmonisch verlief. Zwischen 1919 und 1938 hielt die tschechoslowakische Moderne Einzug und veränderte die Lebensrealitäten der lokalen Bevölkerung, bis in den Jahren 1938/39 die letzten tschechoslowakischen Akteur:innen durch die Ankunft ungarischer Truppen gezwungen waren, die Karpato-Ukraine zu verlassen, die für viele inzwischen zur neuen Heimat geworden war.

Dieses Teilprojekt untersucht die wirtschaftspolitischen Auswirkungen der Grenzverschiebungen auf die lokalen Lebenswelten. Ebenso wird die Kehrseite der sozialen und wirtschaftlichen Integration in den tschechoslowakischen Staat analysiert. Dabei wird auch die Sicht der tschechoslowakischen Akteure auf das Leben vor Ort behandelt, sowie die Wahrnehmung der Prager Modernisierungsmission durch die lokale Bevölkerung.

Im Konkreten geht es dabei um die Erforschung der Lebenswelten von tschechoslowakischen Lehrkräften, insbesondere von Lehrerinnen, sowie von Krankenschwestern, Rotkreuzschwestern und Sozialarbeiter:innen und weitere «tschechoslowakische Berufsgruppen» in der Region.

Der Schwerpunkt der Studie liegt auf dem Einfluss dieser Expert:innen, von Gesundheitsorganisationen – wie dem Tschechoslowakischen Roten Kreuz – und tschechoslowakischen Frauenverbänden auf das Leben der lokalen Bevölkerung, auf das Leben von Kindern ruthenischer, ukrainischer, ungarischer und Roma-Herkunft, nur um einige zu nennen. Ebenso werden Beispiele für die Auseinandersetzung mit Loyalitätsfragen (beispielsweise bei Lehrpersonen und Beamt:innen) untersucht. Darüber hinaus werden die Auswirkungen der Grenzverschiebungen auf das regionale Kleinhandelswesen und die lokale Mobilität untersucht. Schliesslich werden Fragen der individuellen Zugehörigkeit und biographische Besonderheiten von ausgewählten Akteur:innen erforscht, die in das übergeordnete Forschungsprojekt der «Border Biographies» einfliessen sollen.

Projektleitung

Doktorierende

Ehemalige Mitarbeiterin