Philanthropie und soziale Vulnerabilität

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Philanthropie und soziale Vulnerabilität in der Schweiz (1890-1920)

In der Schweiz nimmt die Philanthropie in der Ausgestaltung der Gesellschaft eine Schlüsselrolle ein: Das Verhältnis zwischen Spendenhöhe und Einkommen ist in der Schweiz, nach den USA, das zweithöchste weltweit und ungefähr die Hälfte aller ansässigen Personen engagiert sich in der Freiwilligenarbeit. Trotz diesem zentralen gesellschaftlichen Stellenwert war die Philanthropie bis anhin erst punktuell Gegenstand von Forschungsarbeiten. Ziel des vorliegenden Forschungsprojektes ist es, die historische Formationsphase der modernen Philanthropie in der Schweiz zwischen 1890 und 1920 zu untersuchen und philanthropische Netzwerke und Initiativen, die sich der Bekämpfung sozialer Vulnerabilität verschrieben hatten, zu analysieren. Das Forschungsprojekt nimmt damit nicht nur eine erste Blütezeit der Philanthropie in den Blick, sondern fokussiert auch auf die Formationsphase des Schweizer Sozialstaates, in der Zuständigkeiten zwischen staatlichen und privaten Akteuren neu verhandelt wurden. Die Geschichte der Philanthropie wird dabei in unterschiedlicher, sich jedoch ergänzender Perspektive untersucht: Ein erstes Dissertationsprojekt fokussiert auf die Stadt Zürich und fragt, welche philanthropischen Vereinigungen sich um die Jahrhundertwende in der rasch angewachsenen Industriestadt formierten und welche sozialen Brennpunkte sie zu bekämpfen suchten. Ein zweites Dissertationsprojekt widmet sich einer ausgewählten philanthropischen Vereinigung, die national tätig war: der Sozialen Käuferliga. Untersucht wird die Pionierarbeit im Bereich des Konsumentenschutzes und der sozialen Sicherheit von Arbeitnehmenden bzw. des Schutzes vor Unfall- und Gesundheitsgefahren („ArbeiterInnenschutz“). Eine dritte Teilstudie, die von der Projektkoordinatorin durchgeführt wird, fragt nach der Wissensproduktion und -organisation in der Philanthropie und untersucht, wie das auf unterschiedlichen Ebenen produzierte Wissen für die philanthropische Praxis greifbar gemacht wurde.

Vier eng miteinander verknüpfte Forschungsfragen leiten die Untersuchung der drei Forschungsprojekte an. So wird erstens untersucht, inwieweit die Philanthropie das „Agenda-Setting“ im Ausbau der sozialen Sicherheitssysteme mitbestimmte. Zweitens wird ausgehend von einer transnationalen Perspektive gefragt, wie die Schweizer Akteure der Philanthropie über die lokalen und nationalen Grenzen hinweg vernetzt waren und in einem transnationalen Prozess der Wissensproduktion partizipierten. Drittens wird die Bedeutung sozialer Differenzkategorien in der Philanthropie analysiert und gefragt, wie politische und konfessionelle Zugehörigkeit aber auch die soziale Herkunft und die Geschlechtszugehörigkeit die Philanthropie strukturierten. Schliesslich werden die praktischen Hilfsmassnahmen untersucht, welche die philanthropischen Akteure zur Lösung der „sozialen Frage“ umsetzten. Mittels dieser vier Forschungsperspektiven trägt das Forschungsprojekt in mehrfacher Hinsicht dazu bei, Forschungslücken zu schliessen: Indem systematisch nach der Leistung der privaten Akteure in der Ausgestaltung der sozialen Sicherheitssysteme gefragt wird, kann die „mixed economy of welfare“ der Schweiz differenziert beschrieben werden. Durch die Integration einer transnationalen Perspektive werden des Weiteren die komplexen Prozesse der empirischen und theoretischen Wissensproduktion und deren praktische Anwendung im Sozialen beleuchtet. Schliesslich wird mittels eines prosopographischen Ansatzes und der Netzwerkanalyse die Struktur von ausgewählten Feldern der Philanthropie offen gelegt und damit ein Beitrag zur Geschichte der Zivilgesellschaft des noch jungen Bundesstaates geleistet. Die Ergebnisse zur Schweizer Philanthropie werden dabei mit europäischen Entwicklungen verglichen: Das vorliegende Forschungsprojekt ist Teil des internationalen Projektes „Europhil: Les philanthropes en Europe et la vulnérabilité sociale (1880-1920)“, das von Christian Topalov (EHESS, Paris) geleitet und von der „Agence Nationale de la Recherche“ (ANR) finanziert wird (2009-2013).