Integriert oder ausgeschlossen? Die Geschichte der Gehörlosen in der Schweiz

Forschungsprojekt Ordinariat Studer
Juli 2018 bis Juni 2022
Finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds

Wie andere gesellschaftliche Minderheiten waren auch gehörlose Menschen von der Sozialpolitik und vom Ausbau des Sozialstaates im 20. Jahrhundert in der Schweiz in vielfältiger Weise betroffen. Dabei wirkten sich die fürsorgerischen Massnahmen teilweise integrierend und teilweise ausschliessend aus. Allerdings ist bisher kaum untersucht worden, welche Formen von Fürsorge- bzw. Zwangsmassnahmen gehörlose Menschen erfuhren.

Über lange Zeit hinweg wurden Behinderung und die Inanspruchnahme von sozialstaatlichen Dienstleistungen gleichgesetzt mit Bedürftigkeit, Hilflosigkeit und körperlicher resp. kognitiver Devianz. Unter dem Stichwort der Integration in die hörende Gesellschaft wurde die Gebärdensprache unterdrückt und gehörlose Menschen zum Erlernen der Lautsprache gezwungen. Dagegen forderten gehörlose Menschen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert und verstärkt seit den 1970er Jahren die Anerkennung der Gehörlosen als Minderheit mit eigener Kultur, deren zentrales Identifikationsmerkmal die Gebärdensprachen sind. Die Studie setzt sich mit Bezug auf die Disability History und Theorien der Intersektionalität kritisch mit den divergierenden Konzeptionen von «Gehörlosigkeit» und «Behinderung» auseinander und fasst gehörlose Menschen als historische Akteur*innen, die in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaftsordnung um Mitsprache kämpften.

Artikulationsklasse an der Taubstummenanstalt St. Gallen um 1913. Die Lautspracherziehung galt in der Gehörlosenpädagogik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als wichtigstes Integrationsmittel (Staatsarchiv St. Gallen, A 451/7.4.02)

Als erstes, breit angelegtes Projekt mit Langzeithorizont, das die Auswirkungen von Fürsorge und Zwang auf Gehörlose untersucht, setzt sich das Forschungsprojekt zum Ziel, die historischen Grundlagen zur Geschichte der Gehörlosigkeit in der Schweiz zu liefern. Diese Forschungsergebnisse werden im Kontext der internationalen Geschichte der Gehörlosigkeit diskutiert, wie auch im Vergleich mit anderen Studien im Bereich der Disability History.

Das Projekt verfolgt drei übergeordnete Zielsetzungen und untersucht:

  • die Wissensproduktion über Gehörlosigkeit und die Verflechtung von wissenschaftlichen Diskursen und Fürsorgepraktiken
  • die für gehörlose Menschen entwickelten Massnahmen im Spannungsfeld von Zwang und Fürsorge.
  • die Strategien der Agency von gehörlosen Kindern und Erwachsenen.

Mechanismen von Fürsorge und Zwang aus einer historischen Perspektive zu verstehen, ist ein erster Schritt, um gegenwärtige Konzeptionen von Gehörlosigkeit zu hinterfragen und diskriminierende Praktiken aufzudecken. Gemeinsam mit unserem Projektpartner, dem Schweizerischen Gehörlosenbund SGB-FSS, eruieren wir die wichtigsten Handlungsfelder und Verbesserungsmöglichkeiten im Zusammenleben von hörenden und gehörlosen Menschen. Ziel des Forschungsprojektes ist es, einen Beitrag zu aktuellen Debatten über die Zukunft des Sozialstaates, der sozialen Sicherheit sowie den Möglichkeitsbedingungen eines selbstbestimmten Lebensweges von gehörlosen Menschen zu leisten.

Das Projekt wird im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 76 «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft» realisiert.