Dissertation von Oliver Meier Schwarz
Jahrhunderte lang war Porzellan der Fetisch der feinen Gesellschaft. Ein Luxusgut, das den Adel umtrieb und Fürsten ruinierte. Das aufstrebende Bürgertum feierte das Porzellan im 19. Jahrhundert als Kulturgut und als Mittel der sozialen Distinktion, zur Abgrenzung gegenüber den Arbeitern und Angestellten. Erst im 20. Jahrhundert wurde Porzellan zum Allgemeingut.
Die Dissertation untersucht Porzellan als «Stoff der Bürgerlichkeit». Sie befasst sich im Kern mit Porzellan, das im 20. Jahrhundert in der Schweiz hergestellt, vertrieben, beworben oder konsumiert worden ist. Der Fokus liegt auf Porzellan als Gebrauchsware. Dessen Popularität manifestierte sich nicht nur im klassischen Geschirr, sondern auch in Pfeifen, Lampenschirmen, Puppen oder künstlichen Blumen für den bürgerlichen Haushalt. Und ab dem späten 19. Jahrhundert boomte das «Hygieneporzellan»: Von Bodenfliessen, Waschbecken und «geruchlosen Closets» bis hin zu falschen Zähnen. Hinzu kam das elektrotechnische Porzellan als Paradematerial für die Verkabelung der Welt: Porzellan-Isolatoren als Massenprodukt ermöglichten eine flächendeckende Elektrifizierung und begründeten einen eigenen Industriezweig.
Die Studie untersucht, inwieweit Gebrauchsporzellan im 20. Jahrhundert den Formwandel des Systems Bürgerlichkeit spiegelt, das Zerbrechen und zugleich die Resistenz bürgerlicher Muster und Codes. Methodisch geht die Studie diskursanalytisch vor. Dabei orientiert sie sich an zehn (Themen-)Feldern, in denen das Potenzial einer Analyse von Porzellan und Bürgerlichkeit besonders gross erscheint: Distinktion, Familie, Sozialisation, Geschlechterrollen, Haushalt, Hygiene, Geselligkeit, Distribution, Fortschrittsglaube und Globalisierung / Imperialismus.
Im Zentrum der Dissertation steht die Porzellanfabrik Langenthal, die mit Abstand bedeutendste Porzellan-Manufaktur in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Sie produzierte sowohl Geschirr als auch (elektro-)technisches Porzellan und galt lange als Vorzeigeunternehmen. Die Studie geht der Frage nach, welche Faktoren den Aufstieg und den Niedergang der Porzellanfabrik prägten, wie die «Porzi» zu einer populären Schweizer Marke wurde – und womöglich zu einer Treiberin der «Demokratisierung» des Porzellans, der Transformation vom bürgerlichen Statussymbol zum Massenprodukt, das in praktisch allen Haushalten zu finden ist. Die Fallstudie stützt sich dabei auf neuere methodische Ansätze, die auf eine (Wieder-) Verknüpfung von Wirtschafts- bzw. Unternehmensgeschichte und Kulturgeschichte zielen.
Einen biografischen Zugang wählt die Studie in einem weiteren Teil, der Arnold Spychiger gewidmet ist. Spychiger (1869-1938) war die treibende Kraft bei der Gründung der Porzellanfabrik Langenthal und prägte das Unternehmen über Jahrzehnte. Seine Geschichte ist das prägnante Beispiel einer bürgerlichen Biografie im Kontext von Porzellan und Infrastrukturgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Oberst, Nationalrat und Unternehmer stieg er zu nationaler Prominenz auf. Spychiger galt als sozial engagierter Mensch, zugleich war er ein Verfechter der umstrittenen Akkordarbeit. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte er in den USA die neusten amerikanische Management-Methoden und wurde ein kompromissloser Verfechter der Rationalisierung von (Regie-)Betrieben, auch im eidgenössischen Parlament. Die Dissertation widmet sich nicht zuletzt den Widersprüchen seiner bürgerlichen Biografie.