Vorgriff auf die Zukunft. Eine Utopiegeschichte der 1977er-Bewegung in Bologna

Projektverantwortlicher: Dr. Leo Grob

Die Geschichte des Kapitalismus ist durchzogen von antikapitalistischen Gegenentwürfen. Dieses Forschungsprojekt untersucht ebensolche alternative Gesellschaftsentwürfe. Es nimmt hierfür soziale Bewegungen mit revolutionärem Anspruch als Laboratorien radikaler Alterität und utopischer Visionen in den Blick.

Als Fallbeispiel dient die italienische 1977er-Bewegung in Bologna, ihrem kreativen Epizentrum. Von Studierenden-Protesten ausgelöst, schlossen sich rasch andere Akteur:innen an: Feministinnen gründeten Gesundheitszentren und Selbsterfahrungsgruppen, Künstler:innen experimentierten mit der Ästhetisierung des Alltags und prekäre Arbeiter:innen forderten ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Abschaffung der Lohnarbeit. Die 77er-Bewegung belebte just dann revolutionäre Hoffnungen neu, als eine für die 1970er Jahre charakteristische «no future»-Stimmung vorherrschte und Utopien ihre Kraft verloren zu haben schienen. Sie suchte nach Inspirationsquellen in der Vergangenheit und bezog sich auf eine Vielzahl revolutionärer Bewegungen.

Vor diesem Hintergrund eröffnet das Projekt neuartige Forschungsperspektiven und interveniert in drei Forschungsfelder:

1) Das Projekt erweitert die Utopian Studies um eine historische Perspektive auf revolutionäre Bewegungen und fragt, welche Utopien die 77er-Bewegung sprachlich artikulierte und mit ihrem Handeln vorwegnahm. Drei zentrale kollektive Akteur:innen der 77er-Bewegung stehen im Mittelpunkt, nämlich Feministinnen, Prekäre und Künstler:innen. Ihre utopischen Imaginationen werden in den Bereichen Geschlechterbeziehungen, Arbeit und Ästhetik beleuchtet.

2) Es leistet einen Beitrag zur Geschichte revolutionärer Bewegungen, indem es die transnationalen und diachronen Bezüge der 77er-Bewegung untersucht. So wird ein Bezugsnetzwerk revolutionärer Bewegungen herausgearbeitet, das u. a. die Pariser Kommune von 1871, das italienische Biennio Rosso 1919–1920 und den US-amerikanischen Feminismus der 1960er Jahre umfasst und das durch einen spezifischen präfigurativen Zukunftsbezug charakterisiert war: Diese revolutionären Bewegungen versuchten, die sozialen Beziehungen und Institutionen der utopischen Zukunft bereits in der Gegenwart vorwegzunehmen.

3) Das Projekt trägt schliesslich auch zur Geschichte der Zeit bei, indem es danach fragt, inwiefern die 77er-Bewegung und ihr Zukunftsbezug als Fortsetzung oder als Bruch mit früheren präfigurativen Bewegungen interpretiert werden kann. Meine These lautet, dass die 77er-Bewegung einen kurzfristigen Zukunftshorizont hatte, die Utopie von der Zukunft in die Gegenwart verschob und in der Vergangenheit nach Inspirationsquellen suchte. So gesehen leistet das Projekt auch einen empirisch fundierten Beitrag zur Frage, inwiefern der Strukturbruch der 1970er Jahre einen Wandel der modernen Zukunftsorientierung auslöste.

Das Projekt erschliesst Quellen aus erst kürzlich zugänglich gemachten Archiven in Bologna. Zahlreiche Privatarchive ehemaliger Aktivist:innen können so erstmals ausgewertet werden. Es wendet Methoden der historischen Semantik, der Praxeologie und der historischen Bildforschung an.

Bologna in den 1977-Jahren
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