«Einen Auftrag möchte ich Dir geben, er verlangt aber etwas Diplomatie»

Geschlechterrollen im gelehrten Milieu des 19. Jahrhunderts zwischen bürgerlicher Soziabilität, wissenschaftlicher Kommunikation und familiärer Repräsentation (Arbeitstitel)

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem gelehrten Milieu des 19. Jahrhunderts hat in der althistorischen Forschung des deutschsprachigen Raums eine mittlerweile lange Tradition. Grund hierfür ist das ab den 1950er-Jahren vermehrt spürbare Interesse an der Erforschung der eigenen Disziplin, deren Geschichte von Beginn weg konsequent über die Auseinandersetzung mit einzelnen herausragenden und wegweisenden Vertretern des Faches erzählt wurde. Die historisch-kritische Aufarbeitung von Leben und Werk bedeutender althistorischer Gelehrter wurde früh zu einer der zentralen Aufgaben der Wissenschaftsgeschichte erklärt, welche sich bis heute in zahlreichen Arbeiten in diesem Bereich niederschlägt.

Ein eingängiges Beispiel hierfür stellt Theodor Mommsen dar, der seit Jahrzehnten Gegenstand einer intensiven wissenschaftlichen Forschung ist. Nach der Öffnung seines Nachlasses im Jahr 1933 sind unzählige Aufsätze, Editionen und Monographien entstanden, welche sich dem akademischen Werdegang sowie den fachlichen Errungenschaften des berühmten Althistorikers widmen. Im Gros der Arbeiten werden dabei besonders Theodor Mommsens wissenschaftsorganisatorische Verdienste im Rahmen der von ihm initiierten altertumswissenschaftlichen Grossprojekte, seine dafür nötige politische und universitäre Vernetzung sowie seine von der Forschung zugeschriebene Charakterisierung als idealtypischer Vertreter des deutschen liberalen Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts betont. Im Gegensatz dazu findet innerhalb dieser umfangreichen Forschung das privat-häusliche Umfeld des Althistorikers – und insbesondere seine Gattin Marie geb. Reimer – erstaunlich wenig Beachtung. Mit der fehlenden systematischen Beschäftigung mit Mommsens familiärem Alltag wird sowohl ein wesentlicher Bestandteil seiner (ihm so mustergültig zugeordneten) bürgerlich-kulturellen Lebenswelt ausser Acht gelassen als auch die zentrale Frage vernachlässigt, welche Rolle eigentlich Marie Mommsen innerhalb des akademischen Tätigkeitsfelds ihres Gatten und seinen ausgedehnten sozialen Netzwerken einnahm.

Mit der erhaltenen und seit Kurzem vollständig edierten Briefkorrespondenz des Ehepaars Mommsen liegt ein Quellenkorpus vor, welches diesem Desiderat entgegenwirken kann. Dank zahlreicher Forschungs- und Inschriftenreisen von Mommsen sowie weitläufiger Verwandten- und Bekanntenbesuche von Marie sind im Zeitraum von 1854 bis 1902 über tausend Briefe entstanden, mit denen das Paar kürzere oder längere Phasen der Abwesenheit eines der beiden Ehepartner schriftlich zu überbrücken versuchte.

Die Korrespondenz gibt Einblick in den stilistisch gekonnten und geradezu spielerischen Umgang mit dem Genre des Briefs, mithilfe dem die beiden schreibenden Akteure ihren zwischenzeitlich getrennt verbrachten häuslichen Familienalltag und darin gelebte eheliche Aufgaben aushandeln und pflegen, intime Zweisamkeit auf performative Weise inszenieren, aber auch gezielt pragmatische Informationen wie versäumte gesellschaftliche und universitätspolitische Geschehnisse sowie Neuigkeiten aus dem sozialen Umfeld der Familie teilen. Besonderes Augenmerk muss dabei auf die Rolle der Gattin Marie gelegt werden, welche während der Reisen ihres Gatten zur souveränen familiären Stellvertreterin und zur entscheidenden Kommunikatorin zwischen Mommsen und der akademischen Welt Berlins avanciert.

Die Untersuchung des langjährigen Briefwechsels des Ehepaars, bei der das Briefmedium an sich sowie seine bewusst eingesetzte Multifunktionalität im Zentrum steht, erlaubt nicht nur neue Perspektiven auf Theodor Mommsen sowie erstmals dezidiert auf seine Gattin Marie, sondern ermöglicht auch eine Vergleichsbasis mit weiteren Briefwechseln aus dem bürgerlich-akademischen Umfeld dieser Zeit. 

Parallele Betrachtungen von anderen schreibenden Ehepaaren, so beispielsweise von Friedrich und Marie Althoff, Erich und Helene Liesegang oder Karl und Susanna von Hegel, sollen den Blick auf Geschlechterrollen im gelehrten Milieu des 19. Jahrhunderts zwischen bürgerlicher Soziabilität, wissenschaftlicher Kommunikation und familiärer Repräsentation öffnen.

Dissertation

Projektbetreuung

Ausschnitt eines Briefes von Theodor Mommsen an seine Gattin Marie mit eingelegter Blume aus Brescia (24.09.1867).