Historisches Institut

Forschung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte

Ideologie, Milieu und Praxis revolutionärer Gruppierungen in Russland vor 1917. Politische Gewalt als Merkmal einer politischen Religion?

Verantw. Leitung

Leitung

SNF-Mitarbeiter

Leben für die Sache: Die revolutionären Biographien von Vera Zasulič und Vera Figner
Fallstudie zu zwei russischen Frauen, die aus der traditionellen Generderrolle ausbrachen und im radikalen Milieu eine neue Heimat fanden.

Im Zentrum dieses Projektes stehen die Biographien von Vera Figner und Vera Zasulič, die beide zur ersten Generation von Frauen in Russland gehörten, die radikal mit den damaligen Vorstellungen einer angemessenen weiblichen Rolle brachen, um ein „neues Leben“ zu beginnen. Sie und zahlreiche Gesinnungsgenossen und Gesinnungsgenossinnen kamen Ende der 1870er Jahre in einen sich immer mehr zuspitzenden Konflikt mit dem zaristischen Regime. Vera Figner und Vera Zasulič waren entscheidend an Wende beteiligt, die zur offenen Gewaltanwendung durch die Radikalen (Terror) und die Staatsmacht (Repression) führte. Vera Zasulič stand 1878 mit ihrem Schuss auf Trepov am Anfang der ersten terroristischen Welle (1878-1882) in Russland, Vera Figner als letzte Führungsperson der Terrorgruppe Narodnaja Volja (Volkswille) an deren Ende.

Mit dem biographischen Ansatz nimmt sich die Arbeit vor, nicht nur die Lebenswege der beiden Frauen nachzuzeichnen, sondern sie geht auch darauf ein, wie sie ihr „neues Leben“ bewusst oder unbewusst inszenierten und konstruierten. Deshalb wird versucht, die beiden Frauen und ihre Biographien aus unterschiedlichen Richtungen zu beleuchten, um ein collageartiges Gesamtbild zu schaffen. Ansätze aus der Ideengeschichte („neuer Mensch“), der Sozialgeschichte (soziales Milieu) und der politischen Geschichte (Politische Gewalt; Terrorismus; Politische Religion) fliessen in die Analyse ein.

Die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschungsarbeit belegen, dass es nicht so sehr eine bestimmte Ideologie war, welche die beiden Frauen bei ihrer Radikalisierung beeinflusste. Entscheidender waren einerseits der individuelle Wunsch, über das eigene Leben selbst bestimmen zu können, und andererseits das Vorhandensein eines Milieus, das diese Bestrebungen akzeptierte und förderte: das radikale Milieu in Russland. Diese radikalen Netzwerke, die sich ab 1860 in Russland herausbildeten, sollten bis 1917 und teils darüber hinaus Bestand haben. Sie bildeten den manchmal auch einengenden Rahmen, in dem traditionelle Geschlechterrollen überwunden und neue Formen des Zusammenlebens auf der Mikroebene realisiert werden konnten.

Schlagworte

  • Gender
  • Gewalt
  • Politische Religion
  • Politischer Radikalismus
  • Russland
  • Terrorismus