Forschungsschwerpunkte bilden in chronologischer und regionaler Hinsicht die sowjetische, osteuropäische und deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, methodisch Fragen der technopolitics, der entangled history sowie der intellectual history, insbesondere der Historiographiegeschichte.
In seinem Habilitationsprojekt „Oase der Zukunft. Die Atomstadt Ševčenko/Aktau, 1959–2019“ untersucht Stefan Guth die Ambivalenz sowjetischer Technopolitik im Spannungsfeld zwischen Wettrüsten und Systemwettbewerb, zwischen kommmunistischem Zukunftsversprechen und stalinistischen Altlasten am zentralasiatischen Fallbeispiel. Gegründet als Zentrum der Uranförderung und Plutoniumproduktion im Dienste des sowjetischen Atomwaffenprogramms, wurde Ševčenko unter dem Eindruck von Eisenhowers „Atoms-for-Peace-Initiative“ in den 1960er und 70er Jahren zielstrebig zur international beachteten Vitrine des „atomic-powered Communism“ (Josephson) ausgebaut. Brutreaktor und nukleare Wasserentsalzungsanlage ließen auf der Wüstenhalbinsel Mangyšlak in Westkasachstan eine Atomoase für 200 000 Einwohner entstehen. Fünf Dimensionen sowjetischer Technopolitik können an diesem Beispiel eingehend erforscht werden:
- die kulturelle – manifest in der Bedeutung der Zukunftsstadt für das spätsowjetische Fortschrittsnarrativ;
- die soziale – greifbar im Doppelcharakter des Großprojekts als privilegierter Socgorod und Zwangsarbeitslager;
- die ökologische – augenfällig im Spannungsverhältnis zwischen technokratischer „Naturverbesserung“ und Umweltzerstörung;
- die internationale, weil Ševčenko zum Brennpunkt einer intensiven blocküberschreitenden Technodiplomatie und Kooperation wurde; und schließlich
- diejenige des technopolitischen decision-making, die hinter der Fassade vordergründiger Zielstrebigkeit Richtungskämpfe zwischen militärischen und zivilen, realistischen und utopischen Zielsetzungen offenbart.
Über den Zusammenbruch der Sowjetunion hinweg zeigt das Projekt zudem, wie die vor 1991 entworfenen und erprobten Zukunftsvisionen in der postsowjetischen nuklearen Technopolitik Kasachstans und Russlands fortleben.
Mit seiner kürzlich erschienenen, preisgekrönten Dissertation „Geschichte als Politik“ leistet Guth einen profunden Beitrag zur Historiographiegeschichte im 20. Jahrhundert ebenso wie zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, die immer wieder maßgeblich auf dem Feld der Geschichtspolitik gestaltet wurden. Entsprechend haben sich Generationen von Berufshistorikern beidseits der Grenze politische Anliegen zu eigen gemacht. Ihr bisweilen dezidiertes Engagement reichte vom Kampf um die Versailler Grenze in der Zwischenkriegszeit bis zum Projekt der deutsch-polnischen Aussöhnung in den Siebzigerjahren. „Geschichte als Politik“ verfolgt den Gegenstand über ein halbes Jahrhundert durch unterschiedlichste politische Konstellationen und berücksichtigt dabei gleichermaßen die polnische wie die deutsche Seite. Damit eröffnet es erstmals einen langfristig angelegten und multiperspektivischen Blick auf den Gegenstand, der erstaunliche Kontinuitäten und Brüche zutage fördert. Die Studie versteht sich als politische Geschichte der Geschichtsschreibung, die nicht nur vertiefte Einsichten in die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte vermitteln möchte, sondern auch der Frage nach der politischen Bedingtheit und Wirksamkeit von Geschichtsschreibung nachgehen will.