Historisches Institut

Forschung Neueste Geschichte und Zeitgeschichte

Internationale Politik zwischen Diplomatie und semioffizieller Grauzone. Die Bedeutung staatlicher und gesellschaftlicher Akteure für die Praxis des Minderheitenschutzes im östlichen Europa in der Völkerbundzeit

Forschungsprojekt finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds mit einem Stipendium für Fortgeschrittene Forschende gefördert. Dadurch werden jeweils sechsmonatige Forschungsaufenthalte in London, Paris, Warschau und Genf ermöglicht. Projektdauer: März 2011 bis Februar 2013.

SNF Mitarbeiter

Forschungen zur Internationalen Geschichte fokussieren aktuell im Besonderen auf die gesellschaftliche Dimension von Außenpolitik und reduzieren diese nicht länger auf eine Beziehungsgeschichte diplomatischer Eliten. Das vorliegende Projekt will einen Beitrag zur Diskussion darüber leisten, wie und auf welchen Ebenen aus dem gesellschaftlichen und internationalen Umfeld stammende Einflüsse ihre Wirkung entfalten. Gegenstand der Untersuchung ist das Minderheitenschutzsystems des Völkerbundes, an dessen praktischer Ausgestaltung und den darüber geführten Debatten sowohl staatliche als auch gesellschaftliche Akteure beteiligt waren. Die Mitarbeiter der Genfer Organisation sowie Vertreter der im Völkerbundsrat vertretenen Staaten hatten dabei über Beschwerden gegen die staatliche Minderheitenpolitik der osteuropäischen Staaten zu entscheiden, die im Regelfall von gesellschaftlichen Aktivisten verfasst wurden. Die Interaktion zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren begrenzte sich dabei keinesfalls auf diesen formalen Bereich, sondern fand vor allem auf der Ebene der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie in persönlicher Kontaktaufnahme ihren Ausdruck.

Ausgehend von zwei Fallstudien zu Polen betreffenden Minderheitenbeschwerden soll aufgezeigt werden, welche Bedeutung staatliche und gesellschaftliche Akteure für die Praxis des Minderheitenschutzes im östlichen Europa hatten. Ausgewählt wurden dazu die Petitionen gegen die Landreformgesetze und die 1930/31 von der polnischen Armee als Reaktion auf terroristische Aktivitäten durchgeführten Pazifikationen im ukrainischen Siedlungsgebiet. Anhand dieser Beispiele soll untersucht werden, wie der betroffene Staat auf die nach Genf gesandten Petitionen reagierte und mit welchen Mitteln er versuchte das Verfahren des Völkerbundes zu beeinflussen. Gleichfalls soll rekonstruiert werden, wie die Völkerbundsmitarbeiter sowie die Vertreter der ständig im Völkerbundsrat vertretenen Großmächte Großbritannien, Deutschland und Frankreich Informationen zur Sachlage vor Ort einholten und inwiefern sie dabei nichtstaatlichen Quellen vertrauten. Ein weiteres Augenmerk liegt ferner darauf, mit welchen Mitteln staatliche Akteure ihre Sicht auf einen Konflikt in den Gremien des Völkerbundes durchsetzen wollten und inwiefern sie dabei auf die Hilfe von Aktivisten zurückgriffen. Somit wird einerseits der Umgang mit den Beschwerden in Genf und die Einflussnahme der Auswärtigen Ämter der Großmächte beschrieben. Andererseits wird die Tätigkeit gesellschaftlicher Aktivisten der betroffenen Minderheitengruppen sowie aus der Völkerbundsidee nahe stehenden Vereinigungen analysiert. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf die Rückwirkungen dieses Lobbyismus auf den politischen Umgang mit den Petitionen sowie die weitere Ausgestaltung der Minderheitenpolitik in Polen geworfen werden. Anschließend soll unter Bezugnahme auf weitere mittel- und osteuropäische Staaten betreffende Minderheitenpetitionen ein vergleichender Ausblick gegeben werden. Dies soll der abschliessenden Reflexion, inwiefern die aus den zwei Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse allgemeine Aussagekraft für die Rolle gesellschaftlicher und staatlicher Akteure in der internationalen Politik in der Zwischenkriegszeit haben, zusätzliche Aussagekraft verleihen. Mit Blick auf das Minderheitenschutzsystem soll gleichfalls diskutiert werden, inwiefern dieses seine praktischen Auswirkungen dem Engagement gesellschaftlicher Aktivisten zu verdanken hatte.
Quellengrundlage der Studie sind zeitgenössische Druckschriften, Zeitschriften- und Zeitungsartikel sowie umfangreiches Archivmaterial aus dem Völkerbundsarchiv in Genf, staatlichen Archiven in London, Paris, Berlin und Warschau. Dabei werden auch Nachlässe einzelner Personen und nichtstaatlicher Institutionen berücksichtigt.