Der neue Bürger und die neue Politik: Mediale Konstruktionen in Predigt und Presse in der deutschsprachigen Schweiz (1830-1850)

Forschungsprojekt finanziert durch den Schweizerischen Nationalfonds, Beginn: Januar 2016

Leitung

Mitarbeitende

Im Zentrum des Projekts steht das diskursive Aushandeln des neuen ‚tugendhaften Bürgers’ und der neuen politischen Ordnung während der spannungsreichen Formierungsphase des moder­nen Schweizer Bundes­staats in zwei Medien: Predigt und Presse. Mit der Analyse eines Mediums älterer Provenienz und eines Mediums, das in der Forschung als spezi­fisch bürgerlich gilt, verwendet das zwei­polige Projekt einen konzisen, auf die Verbrei­tung von Aussagen und Meinungen an ein Publikum fokussierten Medienbegriff. Durch die Einbeziehung der Textsorte Predigt, deren Relevanz für das Politische in der Frühen Neuzeit längst erkannt wurde, soll die Predigt als ein genuin politisches Genre auch des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Das Desiderat ist im Fall der Schweiz evident, weil zentrale politische Konflikte zwischen der Julirevolution von 1830 und der Grün­dung des Bundesstaats im Jahr 1848 kirchlich-religiöse Aspekte tangierten und konfessionell konfiguriert waren. Es über­rascht deshalb, dass bislang eine systematische Analyse der Predigt als politischer Text in der liberalen Ära des 19. Jahrhunderts fehlt. Dies gilt mit wenigen Einschränkun­gen für den ganzen deutschen Sprachraum. Dagegen wurde die Bedeutung der Presse, insbesondere der Zeitung, mit ihrer Funktion der Herstellung einer gesamtgesell­schaftlichen Öffentlich­keit zwar längst erkannt. Indes mangelt es auch im Hinblick auf den Diskurs der Presse in der deutschsprachigen Schweiz an einer Untersuchung, die methodisch-konzeptionell à jour ist. Das für bürgerliche Identitätsentwürfe konstitutive Medium der Zeitschrift wurde bislang gar nicht behandelt.

Die Fragestellung des beantragten Projekts zielt auf die Geschichte und den Wandel ‚des Sagbaren’ (W. Stein­metz), d.h. die relevanten Sprachmuster, nach der Liberalisierung des öffentlichen Kommunikations­raums 1830/31. Im Sinne der Neuen Politikgeschichte sollen dabei das diskursive Aushandeln der neuen bürgerlichen Politik und bürger­licher Stile zusammen analysiert werden. Es wird somit ein weiter Politikbegriff angewandt, der das Politische nicht auf ‚Decision making’ in Institutio­nen verengt, sondern politische Ideen, Sprechweisen, alltagsrelevante Normen und Geschlecht miteinander verknüpft. Denn eine enge Verwobenheit von – kurz gesagt – Politik und bürgerlichen Stilen findet sich immer wieder in den Texten selbst! Im Kontrast zu harmonisieren­den Einschätzungen (U. Meyerhofer u.a.) zur Entstehung der Bürgerlichkeit in der Schweiz lautet die Hypothese des Pro­jekts, dass es in der Schweiz vor der Gründung des Bundesstaats nicht nur – wie bekannt – zahlreiche Konflikte, sondern mehrere konkurrierende ‚politische Sprachen’ gab. Das Konzept der ‚politischen Sprachen’ orientiert sich an dem Entwurf der ‚Cambridge School’ (v.a. J.G.A. Pocock), der aber methodisch-konzeptionell im Hinblick auf politische und sprachliche Kontexte ergänzungsbedürftig ist. Das Design des Pro­jekts rekurriert zudem auf Begriffsgeschichte (R. Kosel­leck), die Genese der Bürgerlichkeit (hier v.a. den Gen­der-Aspekt) und die Frage der Säkularisierung an einer Weichenstellung hin zur politischen Moderne in der Schweiz. Ein Projekt, das Predigt und Presse in der ‚Sattelzeit‘ vergleichend untersucht, hat es bislang weder in der schweizerischen noch in der deutschen Forschung gegeben.